Gedenk-AG Mahmud Azhar

Mahmud Azhar war Promotionsstudent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU. Am 6. März 1990 starb er in Folge eines rassistischen Angriffs auf dem Campus der FU. Diese Seite wird von der Gedenk-AG Mahmud Azhar betrieben. Wir haben uns im Jahr 2022 zusammengeschlossen, um die Erinnerung an unseren Kommilitonen an der FU aufrecht zu halten, seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren und zu erzählen sowie über heutige und damalige rassistische Bewegungen und Tendenzen (auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft) aufmerksam zu machen.

Ihr erreicht uns am besten unter: gedenken-azhar(at)astafu.de

Aktuelle Termine:

  • 6. März 2024, 14 Uhr: Gedenken am Todestag Azhars an der Gedenktafel im Institut für Biochemie, Hahn-Meitner-Bau, Thielallee 63, 14195 Berlin

 

Der folgende Text zum Menschen Mahmud Azhar und seiner Ermordung wurde von der AG verfasst und zuerst auf der Website Niemand ist vergessen – Berlin veröffentlicht.

Wer war Mahmud Azhar?

In Auflistungen über Todesopfer rechter Gewalt nach der sogenannten Wiedervereinigung (z. B. von der Amadeu-Antonio-Stiftung) bekommt Mahmud Azhar oft die Ziffer 0, da er zwar nach dem Mauerfall, aber vor dem 3. Oktober 1990 ermordet wurde, der in der Regel der Ausgangspunkt dieser Statistiken ist. Azhar war jedoch mehr als ein Teil einer Statistik. Ein Freund (Dr. Usfeya Muazzam) sagte nach Azhars Tod über ihn: „Mahmud war ein sehr aufrichtiger, ehrlicher und treuer Freund. Er war ein lebenslustiger und bescheidener Mensch – niemand der sich in den Mittelpunkt stellte. Man konnte sich auf ihn verlassen. Solche Charaktere findet man selten.“

Mahmud Azhar wurde am 20. Februar 1950 in Karachi (Pakistan) geboren. In seinem Geburtsland hatte er zunächst einen Bachelor in Chemie gemacht und sich anschließend in verschiedenen Masterprogrammen spezialisiert (Chemie/organische, Bio- und physikalische Chemie/theoretische physikalische Chemie). Zu seinen Interessen zählten – neben der Chemie – Badminton, Fotografie und Bergsteigen. Er war seit 1974 Promotionsstudent und ab 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Biochemie der Freien Universität Berlin. Seine Kolleg:innen bezeichneten ihn als beliebten Kollegen mit einer „stillen, freundlichen und hilfsbereiten Art“. Diese Promotion sollte im Mai 1990 abgeschlossen sein. Nach der Promotion wollte er nach Pakistan zurückkehren, um sein erworbenes Wissen dort in der Lehre anzuwenden und seine Eltern im Alter zu unterstützen.

Der rassistische Angriff

Am 7. Januar 1990 befand sich Azhar am Institut, das damals noch in Lichterfelde am Ostpreußendamm 111 gelegen war. Als er am Abend das Gebäude verließ, wurde er von dem 25jährigen, angetrunkenen DDR-Bürger Thomas F. rassistisch bedroht und beleidigt (z. B. „Scheiß-Ausländer! Was wollt ihr hier? Deutschland den Deutschen. Ihr habt unsere Arbeitsplätze weggenommen. Ihr sollt verrecken. Dich bringe ich um.“ Auch verlangte er Azhars Ausweis zu sehen). Er kehrte ins Gebäude zurück und versuchte zwei Mal, die Polizei anzurufen, die kam jedoch nicht. Dort wurde er von dem alkoholisierten Täter niedergeschlagen und mit einem Feuerlöscherrohr am Kopf sowie durch einen Sturz in Folge eines Tritts am linken Knie verletzt. Auch riss F. das Telefon vom Kabel. Laut eigener Angabe wehrte sich Azhar nicht, da er befürchtete, die Polizei könne ihm die Schuld geben und in Konsequenz seine Abschiebung veranlassen, was den Abschluss seiner Promotion gefährdet hätte. Die (Nicht-)Reaktion der Westberliner Polizei und diese – wohl nicht ganz unberechtigte – Furcht Azhars zeigen, welches rassistische Klima zu dieser Zeit auch im Westen herrschte.

Schließlich erschien die Polizei aufgrund eines dritten Notrufs, den ein vorbeifahrender Taxifahrer abgesetzt hatte. Azhar wurde ins Krankenhaus gebracht, der Täter für zwei Tage festgenommen und vernommen (er behauptete, er könne sich an nichts mehr erinnern, vor Gericht sollte er sogar behaupten, Azhar hätte ihn zuerst angegriffen) und wieder freigelassen. Daraufhin konnte er sich nach Ostberlin absetzen. In der „Bild“ hieß es nach Azhars Tod: „Für den Kripo-Schnelldienst war es erst nur ein Alltagsfall“. Hier erscheint die Alltäglichkeit der rassistischen Gewalt, die von der Polizei auf die leichte Schulter genommen wurde.

Nach zwei Monaten Krankenhausaufenthalt starb Azhar am 6. März 1990 an den unmittelbaren Folgen des Angriffs. Ende 1990 kam es schließlich, trotz der chaotischen Verhältnisse in der sich im Zusammenlegungsprozess befindlichen Berliner Justiz, zu einem Prozess. Am 20. Dezember 1990 wurde Thomas F. zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Trotz der oben zitierten Beleidigungen konnte der Staatsanwalt (Landgericht Berlin) kein rassistisches Motiv für die Tat feststellen. Immerhin hatte er die „ausländerfeindlichen Äußerungen“ überhaupt in die Anklageschrift übernommen. Das scheint keine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, da der Rechtsanwalt von Azhars Eltern in der Presse zitiert wird, „er sei froh“, dass das passiert sei. Auch den Tatvorwurf „Körperverletzung mit Todesfolge“ konnte der Staatsanwalt nicht nachvollziehen, da F. den Tod Azhars nicht hätte vorhersehen können. Das Gericht folgte dieser Interpretation, und blieb sogar noch unter dem vom Verteidiger geforderten Strafmaß. In der Urteilsbegründung hieß es dazu, dass der Beschuldigte Mahmud Azhar zwar mit „Äußerungen bedachte, die ausländerfeindlichen Charakter trugen“, diese ließen aber „nicht den sicheren Schluß zu, daß der Angeklagte ein Rassist sei“. Im „Tagesspiegel“ war u. a. nachzulesen: „Möglicherweise, so die Kammer, habe das Opfer auch etwas sensibel auf Äußerungen reagiert, die nicht so gemeint gewesen seien.“ Antifaschistische Aktivist:innen hatten diese Individualisierung der Tat und Herunterspielen des Motivs bereits vorausgesehen, wie sich aus zeitgenössischen Artikeln und Flugblättern ergibt.

Die Folgen

In Berlin gründete sich in Folge das „Aktionskomitee Mahmud Azhar“. Zusammen mit mehreren solidarischen und antirassistischen Gruppen wie der Pakistanischen Studentischen Vereinigung, OROMO Horn von Afrika- Zentrum e. V., dem Flüchtlingsrat Berlin, AK Antifa-Info in Moabit, dem AStA FU und dem AStA TU wurde eine Demonstration (24. März 1990 mit 300 Teilnehmenden) und mehrere Mahnwachen organisiert. In einem Text in der „Interim“ wurde der Mord in die aktuelle Stimmung eingeordnet: „Wir alle wissen, daß sich die Überfälle auf AusländerInnen besonders seit dem Wahlerfolgen der Reps und dem am 09. November 89 beginnenden Vereinigungstaumel gehäuft haben. So wurden z. B. im letzten Jahr die beiden türkischen Mitbürger Üzüm Sadik und Ufuk Sahin aus rassistischen Motiven heraus ermordet; so ist auch Azhar nur das vorläufig letzte Opfer des beängstigend zunehmenden Ausländerhasses.“ Bereits zeitgenössisch wurde im „Antifaschistischen Infoblatt“ die mangelnde Aufmerksamkeit der (bürgerlichen) Presse auf den Fall und insbesondere seinen Zusammenhang mit dem zeitgenössisch verschärften Rassismus kritisiert. Allgemein wurde den Medien aufgrund ihrer oft ausländerfeindlichen, hetzerischen Berichterstattung und der CDU wie den Republikanern wegen ihrer „rassistischen Stimmungsmache“ eine Mitschuld an der Tat gegeben und die Aufhebung von diskriminierenden Gesetzen gefordert.

In einem Flugblatt des Aktionskomitees wurde konkretisiert: „Die Hoffnungen auf mehr Freiheit und Freizügigkeit nach der Öffnung der Mauer verwandelten sich für einen Teil der Bevölkerung Berlins in einen Alptraum. Ost-Berlin und Teile West- Berlins sind v. a. für ImmigrantInnen, Flüchtlinge und schwarze Deutsche faktisch zum gesperrten Gebiet geworden. Rassistische Beschimpfungen und tätliche Angriffe von Neo-Faschisten und Skinheads und von ganz ‚normalen‘ BürgerInnen und die letztliche Mittäterschaft der passiven ZuschauerInnen sind Alltag geworden.“

In FU-Publikationen wurde ein Nachruf der FU auf Azhar veröffentlicht, das Präsidium war jedoch scheinbar nicht daran interessiert, einen solchen auch in der Berliner Tagespresse zu publizieren, was eine breitere Öffentlichkeit erreicht hätte. Auch ansonsten bekleckerte die FU-Verwaltung sich zunächst nicht mit Ruhm und verschleppte die Zahlung eines „Sterbegelds“ sowie die finanzielle Unterstützung zur Überführung des Leichnams. Auch über den Text der Gedenktafel, die am Biochemie-Institut aufgehangen werden sollte, wurde im Akademischen Senat (AS) lange diskutiert, da die FU sich mit der Nennung des Tatmotivs nicht juristisch angreifbar machen wollte. So fand auch die vom studentischen Vertreter Carsten von Wissel geforderte Formulierung „rassistischer Überfall“ für die Gedenktafel im AS keine Mehrheit, da das Gericht eine solche ja verneint hatte. Auch als Nebenklägerin im Verfahren beteiligte sich die Uni nicht. Immerhin hieß es in einem Beschlusstext des Akademischen Senats: „Aus Anlaß des Todes von Mahmud Azhar ruft der Akademische Senat alle Angehörigen der FU auf, gegen Rassismus und zunehmende Ausländerfeindlichkeit aktiv Stellung zu beziehen.“

Erinnerungsarbeit

Am 15. Januar 1991 wurde schließlich die Gedenktafel am Institut für Biochemie eingeweiht. Nach dem Auszug der FU aus dem Gebäude in Lichterfelde war sie der (Hochschul-)Öffentlichkeit jahrelang nicht zugänglich. Der Mord geriet in Vergessenheit. 2014 musste Arvid Peschel, der das Verbrechen in einer AStA-Zeitschrift wieder in Erinnerung brachte, konstatieren: „Es gibt keine Gedenkveranstaltungen, keine Hinweise in Publikationen und auf Webseiten der Universität, kein öffentliches Gedenken. So als hätte es diesen rassistischen Angriff, als hätte es den FU-Wissenschaftler Mahmud Azhar hier niemals gegeben. So als wäre solch eine Tat an einer Universität wie dieser undenkbar.“

Er schloss mit dem Appell: „Dringlicher scheint viel mehr zu sein, einen Menschen in das Gedächtsnis [sic!] dieser Universität zu rufen, an der es überhaupt möglich war, dass er vergessen wurde.“ Dieser Vorwurf traf nicht nur die Hochschulleitung, sondern letztlich auch die sich links verstehende (organisierte) Studierendenschaft. Letztere folgte nun aber zuerst Peschels Aufruf. So wurden von studentischer Seite 2017, 2020 und 2022 Gedenkveranstaltungen für Mahmud Azhar organisiert. Es gab eine Plakataktion und der Allgemeine Studierendenausschuss ruft jedes Jahr auf seiner Website und auf Social Media den Tag des Angriffs und den Todestag Azhars in Erinnerung. Dies scheint auch entsprechenden Druck auf die FU-Leitung ausgeübt zu haben. Die Universität veröffentlichte 2020 ein längeres Audio-Feature zur Tat, was neben der begrüßenswerten Ausweitung der Kenntnis über das Verbrechen leider den Kontext der Tat zu sehr auf die DDR-Biographie des Täters einengt und auch die kritische Rolle der FU bei der unmittelbaren und langfristigen Aufarbeitung und Erinnerung verschweigt. Der Beteiligte Politikwissenschaftler Jochen Staadt behauptet hier u. a., dass es zur Frage der Bewertung der Tat komplette Einigkeit an der FU gegeben hätte, was angesichts der oben beschriebenen Debatten wenig glaubwürdig scheint. Noch verwunderlicher ist seine Aussage: „Rechtsextremismus spielte in West-Berlin in dieser Zeit keine Rolle“. Angesichts von 7,5 % der der Stimmen, die die Republikaner bei der Abgeordnetenhauswahl 1989 erhielten, ist dies nur schwer zu glauben. Offensichtlich sollen die oben beschriebenen Westberliner Strukturen so entlastet werden.

Außerdem war im selben Jahr eine Verlegung der Gedenktafel an den aktuellen Standort des Biochemie-Instituts im Hahn-Meitner-Bau geplant. Diese wurde auf Grund der Corona-Pandemie ausgesetzt und in diesem Jahr (2022) nachgeholt. Die (Neu-)Einweihung der Tafel sowie des zusätzlichen Info-Textes wurde vom Universitäts-Präsidenten Günter Ziegler durchgeführt. So gibt es auf dem FU-Campus nun endlich wieder einen für alle zugänglichen Gedenkort.

Gedenk-AG Mahmud Azhar

Mitte 2022 hat sich nun insbesondere aus ehemaligen AStA-Referent:innen eine kleine Gedenk-AG an der FU gegründet, die an Azhar erinnern sowie die Tat und ihre Hintergründe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Dazu versuchen wir u. a., soweit möglich, die verfügbaren Materialien zu Azhar zusammenzutragen. Diese sollen auch demnächst online zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus wollen wir Interviews mit Bekannten und Verwandten Azhars sowie mit am Prozess und der damaligen Gedenkarbeit Beteiligten führen, um so zusätzliches Wissen zu erschließen. Zuletzt wollen wir über ein jährliches Gedenken auch die Erinnerung auf dem Campus wachhalten.

Kontakt zur Gedenk-AG: gedenken-azhar[at]astafu.de
Der Link zur geplanten Gedenk-Webseite wird ergänzt, sobald diese online ist.

Der Text beruht im Wesentlichen auf der folgenden Literatur:

Arvid Peschel: Remember Mahmud Azhar!. Zur Erinnerung an einen rassistischen Mord auf dem Campus der FU Berlin, in: Out of Dahlem. Magazin des AStA FU, Nr. 15 (2014), S. 6–13, online: https://astafu.de/sites/default/files/2022-04/out_of_dahlem-15_de_Remember%20Mahmud%20Azhar.pdf [23.11.2022].

Arvid Peschel: 06. März 1990. Mahmud Azhar stirbt an den Folgen eines rassistischen Angriffs, in: Berlin rechtsaußen. Der Berlin-Blog vom apabiz, online unter: https://rechtsaussen.berlin/2018/03/mahmud-azhar-stirbt-an-den-folgen-eines-rassistischen-angriffs/ [23.11.2022].

Ibo Muthweiler: Dem Leben entrissen. Im Gedenken an Todesopfer rechter Gewalt in Berlin, Berlin 2021, S. 10–17, online: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/11/broschuere-cura-netz.pdf [23.11.2022].

Darüber hinaus wurden verschiedene zeitgenössische Zeitungsartikel und Flugblätter konsultiert.
Das erwähnte Audio-Feature der FU: https://www.fu-berlin.de/campusleben/campus/2022/220304-mahmud-azhar-tafel/index.html [23.11.2022].

Stand des Artikels: November 2022